Die Qual der Wahl (des Studiums)
Stefan sitzt mit seinen 20 Jahren vor mir und schlürft seinen Kaffee. Die Schultern sind leicht herabhängend, auf seiner Nase glänzt eine silberne Viu-Hipster-Brille. “Ich denke, ich möchte außergewöhnlich und besonders sein und aus diesem Grund auch etwas Außergewöhnliches studieren. Klingt das verrückt?” Stefan studiert Verfahrenstechnik - in der Tat ein Studium, von dem viele noch nie etwas gehört haben. “Ich habe aber schon in den ersten Wochen gemerkt, dass ich mich im Studium, an der Uni, unter den Kolleg*innen nicht wohl fühle. Wie ein Fremdkörper. Also habe ich mir Vorlesungen von anderen Studiengängen angehört. Wirklich querbeet. Da waren Komparatisik, Mikrobiologie und Philosophie, unter anderem, dabei. Alles, was 0-8-15 ist, interessiert mich die Bohne. Also sowas wie BWL, Jura, Medizin, Lehramt… ich will….” Stefan hält einen Moment inne, sein Blick wandert nachdenklich nach draußen auf den Gehsteig vor dem Café. “Ich weiß nicht, was ich will.”
Stefan ist kein Einzelfall und genau das sage ich ihm jetzt auch. “Du möchtest herausfinden, was du willst. Deswegen bist du hier. Vielen Menschen geht es so wie dir. Wenn einem alle Türen offen stehen, ist das eine Herausforderung für sich, eine davon auszuwählen. Ich finde es mutig und weise, dass du auf deine Intuition hörst, die dir sagt, dass etwas nicht ganz stimmt.” Langsam entspannt sich seine Körperhaltung. Stefan scheint anzukommen und Hoffnung in den Prozess zu schöpfen, aber immer noch skeptisch zu sein. “Was müsste im Coachingsprozess passieren, damit du am Ende sagst, dass er erfolgreich war?”, frage ich Stefan.
“Ich denke, dass ich weiß, was ich will.” Ich warte die kurze Pause ab, bis Stefan fortfährt: “Kennst du Simon Sinek?” Ich nicke. “Es gibt dieses bekannte Video von ihm, in dem er über Millenials spricht. “Manchmal frage ich mich, ob es einfach an meinen Erwartungen und Vorstellungen liegt. Vielleicht sind die total überzogen und ich bin einfach nur ein verwöhnter Jüngling, der jetzt die harte, erwachsene Realität kennen lernt.”
“Die da wäre?”
“So etwas wie den “perfekten” Job oder Weg gibt es nicht. Arbeit macht meistens einfach keinen Spaß. Und so ist es auch schon im Studium. Wobei, ich kann ja gar nicht sagen, dass es mir gar keinen Spaß bereitet! Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Aber das ist doch kein Argument. Vielleicht sind meine Erwartungen einfach zu hoch - typisch Millenial!”
“Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass ein “ungutes Gefühl” kein ausreichender Grund zur Veränderung sei. Maja Storch, eine Schweizer Psychologin und Forscherin, hat herausgefunden, dass bei guten Entscheidungen zwei Komponenten zusammenspielen. Zum einen unsere Ratio, die Vernunft, wie du richtig erkannt hast. Wenn wir gute Erklärungen und Gründe für oder gegen etwas haben, ist das die halbe Miete. Aber nur die Halbe! Zum anderen braucht es die Intuition, das Bauchgefühl - nenne es, wie du möchtest. Es ist dieses Gefühl, von dem du gerade eben gesprochen hast. Unser Ziel wird es sein, diese beiden Komponenten in Einklang zu bringen.”
“Das klingt gut.” Stefan ist mit an Bord, und in den nächsten Einheiten beschäftigen wir uns damit, was ihm in seinem bisherigen Leben ein positives Bauchgefühl vermittelt hat. Bei welchen Tätigkeiten hat sein Herz einen Sprung gemacht? Wobei hat er das Gefühl von Lebendigkeit verspürt?
Meist gibt es einen inneren Konflikt, der Menschen davon abhält, den Weg zu gehen, den sie wollen. Das kann so weit gehen, dass sie zu einem Punkt gelangen, an dem sie die Frage nach ihren Wünschen gar nicht mehr beantworten können. Kinder wissen sehr genau, was sie wollen und was nicht. Dieses Radar haben wir in uns angelegt, als somatische Marker, wie Maja Storch es bezeichnet..
Bei Stefan zeigt sich, dass er davon träumt zu Schreiben. Seine Ratio sagt ihm aber, dass das eine brotlose Angelegenheit sei. Er hat schon einmal bei einem Schreibwettbewerb gewonnen, aber alle in seiner Familie arbeiten im Bereich Naturwissenschaft und Technik. Schreiben… davon kann man doch nicht leben! Im Coachingprozess gelangte dieser innere Konflikt an die Oberfläche. Auf der einen Seite liebt Stefan das Schreiben und er träumt davon seiner Leidenschaft nachzugehen. Auf der anderen Seite möchte er einen Lebensunterhalt verdienen und abgesichert sein. Germanistik als Studium erscheint im außerdem als zu gewöhnlich und langweilig.
“Wie kannst du herausfinden, wie du deiner Leidenschaft, dem Schreiben, nachgehen möchtest?”
“Ich könnte mich in die verschiedenen Studiengänge setzen. So, wie ich es bereits mit Mikrobiologie gemacht habe. Ja, ich könnte einfach mal eine Vorlesung in Germanistik besuchen und sehen, wie sich das anfühlt. Und Publizistik, das würde mich auch interessieren. Ich könnte auch wieder anfangen zu schreiben, an Schreibwettbewerben teilnehmen und mich mit Personen vernetzen, die vom Schreiben leben. Außerdem will ich herausfinden, worüber ich schreiben möchte….” Stefan sitzt jetzt aufrecht auf seinem Stuhl, seine Mundwinkel haben sich gehoben, in seinem Kopf rattert es hörbar von kreativen Ideen und Dingen, die er jetzt angehen will.
Einige Monate später schreibt mir Stefan, dass er sein Studium gewechselt hat. Er studiert jetzt etwas ganz “Banales”, nämlich Publizistik. Das hätte er sich vorher nie erlaubt. Aber er hat einiges ausprobiert, und dort fühlt er sich am wohlsten. Vermutlich wird er es mit einem Zweitstudium kombinieren. Da ist er noch am Überlegen, aber es wird wohl irgendetwas Technisches / Naturwissenschaftliches sein, denn er möchte im Wissenschaftsjournalismus Fuß fassen.
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